Ferne ist das Gegenteil von Nähe. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität
des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach »Ferne so nah es sein mag«. Die Nähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag,
tut der Ferne nicht Abbruch, die es nach seiner Erscheinung bewahrt. Walter Benjamin (1)
Futuristische Architektur wird grundsätzlich hinfällig und vorübergehend sein. Unsere Häuser werden weniger
beständig sein als wir. Jede Generation muss ihre eigene Stadt neu erschaffen.
Antonio Sant'Elia, Manifest der futuristischen Architektur, 1914 (2)
I've... seen things you people wouldn't believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I've watched C-beams
glitter in the dark near the Tannhauser Gate. All those... moments will be lost in time, like tears in rain.
NEXUS-6 N6MAA10816 (3)
Heute hier und morgen gestern
Daniel H. Wild
Wovon wollen wir Abschied nehmen? Was möchten wir vergessen? Oft denken wir uns Geschichte als einen unaufhaltsamen Lauf der Zeit
und das, was die Moderne war, rückt immer weiter in eine Ferne, die nach und nach zu verschwinden droht.
Von Aufklärungseifer getragene Visionen scheinen im Heute nur aus dem Gestern übrig geblieben. Vermeintliche
Scheiterhaufen von Utopien in Sichtbeton oder Cortenstahl werden entsorgt und aus der Umwelt gesprengt, um neuen Glaspalästen
zu weichen. Wie gerne schauen wir uns Videoclips von einstürzenden Neubauten an, die fachgerecht und zeitnah mit Sprengstoff
demoliert werden. Alekos Hofstetter und Florian Göpfert unterwandern in ihren Zeichnungen des Werkzyklus Tannhäuser Tor
die Notwendigkeit einer utopischen Nostalgie als wirksamen Gegenpol angesichts einer Entradikalisierung der Vorstellungskraft
und funktionieren daher mit einer gehörigen Portion künstlerischer Dreistigkeit Bauten der Nachkriegsmoderne zu zeitlosen
Kultstätten um. In ihren Arbeiten erscheint Nostalgie ausschließlich als ironische Form des Stillstands
und funktioniert damit als ein anderes Zeitbild, in dem die menschliche Gestalt und alle Hoffnungen ihrer Verwirklichung
überflüssig geworden sind.
Mit dieser Sichtweise weisen Hofstetter und Göpfert auch auf die zerstörerischen Utopien in der Vorstellungskraft
des 20. Jahrhunderts hin, in denen der Stalinismus die logische Konsequenz der Moderne bedeutet oder der Futurismus schnurstracks
in der Ästhetisierung des Faschismus mündet. Sie deuten dabei, und das ist besonders frech, eine direkte Verbindung
zur Ästhetik der Nachkriegszeit und des Kalten Krieges an. Diese Zeit, so das Künstlerduo, ist ebenso geprägt
von einer menschenleeren Überlegenheit des Materials. Die Macht des Materials schließt den einzelnen Menschen aus,
zugunsten eines abstrakten Ideals des sozialistischen Genossen oder des sozialdemokratischen Staatsbürgers.
Solch ein Verfahren vereint mithin den bundesrepublikanischen Nachkriegsstädtebau in Hannover und die Neubauten
in Halle-Neustadt, die Pariser Trabantenstädte und die Arbeitersiedlungen in Glasgow, und macht die Parallelen zwischen
dem globalen Versprechen der Vereinten Nationen und der Vermessenheit einer Planhauptstadt im Hochland von Brasilien sichtbar.
Die überordnende Symbolkraft des Nachkriegsstadtbildes, durch die bei den Olympischen Spielen in Sarajevo
die Völkerfreundschaft beschworen wird, während Drachenfels und Petersberg im Siebengebirge über die
Genügsamkeit einer Bonner Republik wachen, findet sich in der Einbildungskraft des Tannhäuser Tors wieder,
ebenso wie etwa Anspielungen auf die titoistischen Gedenkstätten zur Schlacht an der Sutjeska und das Denkmal für
die Revolution in Podgarić, auf französische Feriensiedlungen oder das Panoramarestaurant in der Bergwelt des Piz Gloria.
Die Tatsache, dass sich eine Festung Ernst Stavro Blofelds als ein solches Wintersportreiseziel entpuppte, gehört genauso dazu
wie die Szenenbilder Ken Adams in den Filmen eines Geheimagenten ihrer Majestät oder die sentimentalen Erinnerungsfetzen
eines von der Tyrell Corporation geschaffenen Androiden, dessen Vorstellungskraft die einzelner menschlicher Individuen
bei Weitem übersteigt.
Deutsche Arbeiter wurden einst gewarnt: „die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“. Gleichsam sind die brutalistischen
Neu- und Umbauten des Tannhäuser Tor in ihren pseudo-romantisch angelegten Landschaften mit Abfallfragmenten
der postmodernen Semiotik wohl eher eine schlaue Finte. Beton. Es kommt eben drauf an, was man draus macht. Alekos Hofstetter
und Florian Göpfert beschäftigen sich indessen mit der Konditionierung menschlicher Sinnlichkeit durch Architektur.
Herrschaftsansprüche und Machtmechanismen bestimmen nämlich auch, ob und in welchem Maße durch architektonische
Entwürfe Unübersichtlichkeit, Verwirrung und eine Überforderung der Sinnlichkeit inszeniert werden. Hofstetter
und Göpfert holen dabei paradoxerweise auf dem Wege der Entrückung zurück, was in die Ferne abgeglitten war,
und liefern gleichzeitig analytisch klar einen wichtigen Beitrag zu einem längst überfälligen sozial-ästhetischen
Diskurs um die Verödung, die die fortschreitende Verdrängung der Moderne nach sich ziehen muss. An deren Ausklang
wurde sogar das Ende der Geschichte posaunt, und ob solch einer Erklärung zeigen uns die Tannhäuser Tor-Zeichnungen,
dass die Verbindung von Architektur zu Herrschaftsansprüchen und Machtmechanismen auch heute noch maßgeblich ist.
Nach dem Ende der Geschichte finden wir die Überreste längst vergessener Zivilisationen, wie Forschungsreisende
auf der Schwelle bei Jules Verne: die Geheimnisvolle Insel, Machu Picchu, Tumak, oder das, was Benjamin damals den „namenlosen Fron“
der Zeitgenossen nannte. In diesen fernen, anderen Ländern beharren die Bauwerke am Tannhäuser Tor auf ihre
Daseinsberechtigung und werden dereinst dort auch allen sozialdemokratischen Versprechungen gerecht, so wie die wilhelminischen
Machtphantasien des 19. Jahrhunderts ihr Denkmal im Teutoburger Wald fanden. Auch sie versprachen damals sinnstiftende Ruhe,
während wir hier Zeitzeugen eines vergänglichen Brutalismus werden, wiederauferstanden aus Ruinen und mit
menschlichem Antlitz. Sollte dieser Blick aber verschwinden, mahnt das Tannhäuser Tor, wird unser gemeinsamer Alltag
bald Teil einer vergangenen, zukünftigen Zeit sein, die nur darauf gehofft hatte, weiterhin warten zu dürfen.
(1) Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in Gesammelte Schriften - Band I,
Teil 2: Abhandlungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980.
(2) Antonio Sant'Elia (1888-1916), Manifesto dell’Architettura Futurista, Lacerba 2:15, Milano, 1914.
(3) Das Tannhäuser Tor ist ein fiktiver Ort, der erstmals im Film Blade Runner (Ridley Scott, USA 1982) erwähnt wird.
Jenseits des Tannhäuser Tors
Torsten Birne
„Ein letztes Stück der grauen Betonfassade ragt einsam in den dichten Morgennebel. Immer wieder nagt die Baggerschaufel daran und
lässt den kargen Mauerrest erzittern.“
Es ist nicht bekannt, ob der Autor oder die Autorin des Kölner Stadtanzeigers am mutmaßlich kühlen 3. März des Jahres 2011
schon in einer dark-romantischen Stimmung mit der Drachenfelsbahn auf den gleichnamigen Berg bei Königswinter am Rhein emporfuhr.
Vermutlich war die Stimmung aber wohl Folge des Geschehens. Jedenfalls gelangen zwei vollendete, zwischen Caspar David Friedrichs Gescheiterter
Hoffnung (1823/24) und Jakob von Hoddis‘ Weltende (1911) schlingernde Sätze über einen Abschied. Verabschiedet wurde eine noch gar
nicht so alte Architektur, der letzte Rest der Ausflugsgaststätte, die nach einem Entwurf des Kölner Architekten Ernst Sapia ab Ende
der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf den Felsen platziert worden war. Nicht so sehr aus eigenem Recht, sondern um den Ausflugsverkehr
zur Drachenburg in Bahnen zu lenken, dort also, wo Siegfried der Nibelungensage nach (um 1200) den Drachen Fafnir getötet und durch ein
Bad in dessen Blut seine – unvollkommene - Unverwundbarkeit erlangt hatte. Auf einem Ausflug zum Drachenfels begegnete der Künstler
Alekos Hofstetter seiner Erinnerung nach als Jugendlicher zum ersten Mal moderner Architektur und ihrem volkstümlichen und medialen
Diskurs: „Schandfleck“.
„Mich hat die Frage interessiert, ob die Bevölkerung von Königswinter im Mittelalter die Feste Drachenfels für schön oder
hässlich befunden hat, und bin dann zu dem Ergebnis gekommen, dass vermutlich niemand sich diese Frage gestellt hat. Es war wohl einfach
nur Architektur als Ausdruck der militärischen und wirtschaftlichen Macht, eine Trutzburg. Die romantische Schönheit resultiert einzig
aus der Distanz in unserer Wahrnehmung und auch die heutige Zweckfreiheit dieser Wehrarchitektur spielt eine Rolle. Das kollektive Gedächtnis
hat also bereits durch die spätere Romantisierung den funktionalen Entstehungskontext gänzlich aufgelöst.“ A. Hofstetter
Ist auch die Moderne in diesem Sinne romantisierbar? Ist es denkbar, dass wir jemals – wenn nicht einer Gaststätte – dann doch einer der
Herrschaftsarchitekturen, sagen wir dem Bundeskanzlerbungalow in Bonn von Sep Ruf oder in einer fernen Zukunft dem Reichstag von Norman Foster so
begegnen? Die Frage berührt einiges: Nähe und Ferne in vielerlei Hinsicht, Erleben und Erinnern, Erfahrungen der Distanz und des
Glücksversprechens und des Verlusts. Ihre Verhältnisse werden in den Arbeiten Alekos Hofstetters verhandelt.
Ein wichtiges Jahr war 1982: am 25. Juni kam Blade Runner von Ridley Scott in die Kinos ohne nennenswerten Erfolg. Zuvor war am 8. Februar im Spiegel
der Artikel „Gut getarnt im Dickicht der Firmen“ erschienen. Darin wurde die jahrzehntelange systematische Veruntreuung von Geldern bei der
gewerkschaftseigenen Neuen Heimat aufgedeckt, in dessen Folge der größte europäische Wohnungsbaukonzern zusammenbrach. Von Hamburg
über Bremen bis Mannheim und München waren seit 1950 rund 400.000 günstige Miet-Wohnungen in mehr oder weniger großen Siedlungen
fertiggestellt worden, dazu zunehmend öffentliche Bauten wie Kindergärten und Schwimmbäder.
Tannhäuser Tor, ein Zitat aus dem Schlussmonolog des Films, und Neue Heimat sind key words. Es sind die key words des Künstlers. Nahezu
sämtliche Gebäude - des Films und des Konzerns - lassen sich als Teil der Arbeiten Alekos Hofstetters imaginieren. Das gilt für das
Bradbury Building in Los Angeles von 1893 und für die Neue Vahr in Bremen von 1961. Es ist leicht sich zu überzeugen, dass sie an der
einen oder anderen Stelle in weitläufige oder gebirgige Landschaften hineinragen und/oder deren Fond bilden – seien sie eher apokalyptisch
gestimmt oder biedermeierlich-pastoral, umgeben von synthetischen Zeichen und Oberflächen aus den Weiten der Pop-Kultur und der Konsumgesellschaft.
Ich habe den Film etwa zehn Mal gesehen, insofern ist es kein Wunder, dass das damals rund 40 Jahre in die Zukunft gedachte Los Angeles des Jahres 2019
bei den richtigen Stichworten mir vor Augen steht. Doch gilt dies eben auch – und sogar umso mehr - für den Wohnungsbestand der Neuen Heimat,
und die Bestände aller anderen Genossenschaften, Baugesellschaften, Musterhausfirmen etc. zwischen 1950 und 1982. Es ist die Bau-Welt, in der
wir aufgewachsen sind. Unsere Sandburgen lagen neben Baugruben, unsere Höhlen hießen Rohbau, unser See hieß Kies.
Das schöne Motto, dass der ersten Idee zu trauen sei, gilt für Alekos Hofstetter nicht. Es sieht so aus – unter anderem im Atelier – ,
dass es im Gegenteil ein Ziel ist, dieses Erste (Erinnerung /Vorlage / Foto / Plan / Thema / Idee / Zeichnung / Skizze / Bild / Motiv / Gedanke)
so lange zu überlagern und zu überzeichnen, bis ein entfernter, mehrdeutigerer Zusammenhang entsteht. Dazwischen geschaltet wird ein Prozess
der freien Suche in den eigenen Gründen und denen eines über Jahrzehnte angelegten Bild-, Text- und Material-Archivs im Vertrauen darauf,
dass selbst das scheinbar willkürlichste Fundstück einem Modus und einer Logik unterliegt und zu Etwas führt. Trotzdem lässt sich
ein durchgehaltenes Motiv erkennen, ein Ausgangspunkt: in aller Regel ein Gebäude. Auch das Bild Neapel macht da keine Ausnahme mit einer dominanten
und trotz aller Verluste wiedererkennbaren Betonformsteinfassaden, die seit den 1960er Jahren in allen Himmelsrichtungen Europas aufkommen, aber auch
Jahrzehnte zuvor schon von Frank Lloyd-Wright in den USA entwickelt und eingesetzt wurden. Gegenwärtig bilden sie einen der visuellen Angelpunkte
einer denkmalschützenden Retro-Ost-Perspektive und einer Reihe von Grassroots-Umnutzungsinitativen.
In den Arbeiten werden über mehrere Chiffren mehrere Geschichten erzählt, parallel in einem Bild, lose oder strenger aufeinander bezogen
durch eine Strategie der assoziativen, eingreifenden Montage. Das Verfahren erinnert an Gemälde und Graphiken seit dem späten Mittelalter,
in denen mythologische oder religiöse Geschichten erzählt und wichtige aufeinanderfolgende Szenen in einem Bildraum platziert werden: im
Vordergrund wird Jesus gekreuzigt, im Hintergrund zieht er in Jerusalem ein, rechts im Mittelgrund öffnet sich dann das Grab mit den erschreckenden
Soldaten, so etwas. Allerdings werden in unserem Fall nicht mehrere Szenen einer Geschichte verknüpft, sondern eine Szene oder ein Zeichen IST
die Geschichte, oder besser: wird zur Geschichte und verknüpft sich mit anderen, in der Regel abgestuft gewichtet im Bild. In der Zeichnung Neapel
ist die Architektur tatsächlich Hintergrund. Das entscheidende steht in der Mitte: das Piktogramm einer hilfesuchend die Hände ausstreckenden,
wellenumspülten Figur auf rotem Grund mit weißem Balken: Einfahrt verboten, Nummer 267 der deutschen Verkehrsschilderordnung: ein Zeitungsfoto
mit dem Aufkleber der Figur an einem Metallpfosten, eine Fotografie Alekos Hofstetters aus den achtziger Jahren in Neapel, das Verkehrsschild zu einer
aktuellen Lesart verschmolzen, in aller graphischen und politischen Klarheit.
Mit der am oberen Ende des Verkehrsschildes installierten Videoüberwachungskamera wird die Ansprache eines repressiven und misstrauischen (Staats-)
Apparates auf eine etwas andere Angriffsfläche verlagert, hier geht ein Stück weit die Eindeutigkeit des Statements gegen deutsche und
europäische Flüchtlingspolitik schon wieder verloren. Vervollständigt wird die Szenerie auf der Bildfläche schließlich durch
ein abstrakt-pastelliges Muster, zurückzuführen auf das Himmelblau der Vereinsfarbe des SSC Neapel, gegründet 1904 von englischen
Hafenarbeitern und Symbol für ein glücklicheres Mittelmeer.
Alekos Hofstetter legt Fährten und Spuren. Eine nahezu unübersehbare Quellenlage. Motive, ihrer ursprünglichen Kontexte, Orte und
Beweggründe entkleidet oder auch nicht, stehen neben-, hinter- und übereinander und erzeugen einen Überschuss an Bedeutung oder implodieren.
Es ist nicht zwingend nötig, aber es hilft Dinge zu wissen, etwas über Tim und Struppi in der klaren Linie von Hervé (seit 1929) vielleicht
oder über frühe Popcorn-Filme wie L‘homme de Rio (Abenteuer in Rio, 1964) mit Belmondo in einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd durch Oscar
Niemeyers und Lucio Costas Baustelle in Brasilia. Erwähnt seien ansonsten Japan und Godzilla, die rheinische Sehnsuchtslandschaft, westdeutsche
Schwimmbadtypologien...
Oder nehmen wir das Tannhäuser-Motiv: Es geht in seiner ursprünglichen Fassung auf eine historische Figur im Mittelalter und ihre
Überführung in eine Erzählung zurück. Richard Wagner machte daraus mit einer zusätzlichen, völlig unabhängigen
Erzählung die am 9. Oktober 1845 in Dresden uraufgeführte Oper. Deren Handlung und Motive können bis hierhin zumindest noch im Rahmen
einer bürgerlichen Bildungstradition rückgebunden werden. Davon bleibt im Film als Tannhäuser-Tor nur ein Name und ein Signal und ein Bauwerk.
Doch öffnet sich damit gleichzeitig ein buchstäblich grenzenloser Raum, in dem Utopie und Dystopie, koloniale Ausbeutung und künstliche
Intelligenz, Maschine und Moral zusammenfließen und einen ganzen Zyklus überwölben: eine Erkundung der Moderne als traumhaftes und
gewalttätiges koloniales Projekt, gebannt auf eine Leinwand respektive Papier auf Pappe.
Überhaupt lassen sich Arbeitsweise und Aufgabe eines Regisseurs, mehr noch eines Set-Designers durchaus mit dem Bild-Vorgehen Alekos Hofstetters -
und in besonderem Maße natürlich mit seinen Bühnenarbeiten für Nina von Mechow - kurzschließen: als Arrangement eines
Raum-Zeit-Kontinuums aus den Bruch- und Erinnerungsstücken des vorangehenden. Nachvollziehbar, dass der Künstler selbst auf die Struktur
von Träumen verweist, in denen das eigene Erleben, Erfahren und Erinnern in spiegelverkehrten Objekten aufgehoben ist – im doppelten Sinn des Wortes.
Das meistverwendete Papier, jeweils zurecht geschnitten in passende Formate von üblicherweise mittleren Höhen und Breiten, stammt noch aus
der Dresdner Zeit des Künstlers Anfang bis Mitte der 1990er Jahre: neben der unmittelbaren Zweckbindung und dem Bedürfnis, eine Kontinuität
in den Bildgrund zu bringen, eine Reminiszenz an die Jahre nach dem Fall der Mauer, die den motivischen Fundus erweitern half und den Dämonen der
Moderne im Westen die des Ostens an die Seite stellte. Zudem steht das altgelagerte Papier in beredtem Kontrast zum ebenso nüchternen wie farbstrahlenden
Permanent Marker, eine phantastische Wort-Kombination zur Erklärung.
Ende 2017 wurde im TR – Varieté-Theater in Warschau das Stück Kalifornia / Grace Slick von René Pollesch aufgeführt. Das Theater
kündigte das Stück an wie folgt:
The latest production by René Pollesch, a distinguished director and dramatist from Berlin, is a journey to the origins of civilizational
revolution that started in California in the 1960s. The performance is an attempt at understanding where the colonial expansion and the search for new
territories have led the western civilization to. Our guide is Grace Slick, an American ‘60s rock star, hippie movement icon and symbol of the sexual
revolution. Psychedelia and online business, sexual revolution and the space race, virtual worlds and start-ups meet in this perverse performance.“
Pollesch platzierte ebenfalls einen Text und wählte als Ausgangspunkt die Apollo 8 – Expedition 1969 mit der berühmten Aufnahme des blauen
Planeten Erde, das Nasa-Foto AS8-14-2383HR ‚Earthrise‘:
„From that point onwards, the Earth no longer has an outside. At the same time, in California, the wave of westward colonial expansion encounters a physical,
geographic border – the Pacific Ocean – and starts looking for new territories to conquer: technology, the non-material fabric of virtual reality, and
psychology. California is at the forefront of progress that opens the irresistibly alluring epoch of withdrawal and amplification of the within. We are
witnessing it today.“
Zu dem Stück steuerte Alekos Hofstetter, noch in Zusammenarbeit mit Florian Göpfert, eine paraventhafte Bildstrecke aus der Tannhäuser-Tor-Serie bei,
unter anderem unter Verwendung des Bildes L‘Ile mystérieuse von 2013 nach dem gleichnamigen Roman von Jules Verne von 1874/75 – die Geschichte der
Kolonisierung einer Insel im Pazifik durch fünf Schiffbrüchige aus dem Gesamtzyklus der Captain Nemo-Geschichten. Es entstand eine eindrucksvolle
Fotografie der Aufführung mit einer grell rot gekleideten, etwas verkrampft-großzügig posierenden Schauspielerin vor der eher düsteren
Hintergrund-Atmosphäre. In dieser Szenerie gemahnt die Bildstrecke an ihrem Standort in loser Form an den Chor des antiken Dramas, das Bemühen des
Personals um die Erweiterung seiner Grenzen ebenso kommentierend wie deren Vergeblichkeit und Spätfolgen
Wenn Pollesch in seinem Text auf die unbehagliche Faszination eines neuen kolonialen Projekts abzielt, das mit wenigen miteinander verknüpften
technischen Neuerungen innerhalb eines Jahrzehnts das Kommunikationsverhalten und den Medienkonsum der Menschheit in den Griff bekommt, ließe sich
ergänzen, dass die etwas trägeren Disziplinen Architektur und Städtebau dies für Raumgefühl und Fortbewegung gerade erst vorweggenommen
hatten. Ihr kalifornischer Traum wurde wahr zwischen 1950 und 1975, als globales Phänomen anschlussfähig an alles! Den Kapitalismus und den Sozialismus,
die koloniale Expansion und die Unabhängigkeitsbewegung, das Freiheits- und das Terrorregime, den Konsum und die Leere, die Hauptstadt und den Vorort.
Diese Moderne schuf ein formales Repertoire für nahezu jede Ambition um den Preis, dass ihr jede Ambition zügig auch wieder entzogen werden konnte,
und an diesem Punkt scheinen mir die Arbeiten von Alekos Hofstetter anzusetzen: im informierten, durchaus desillusionierten Danach.
„a new life waits for you in the offworld colonies – the chance to begin again in a golden land of opportunity and adventure.“ Blade Runner, Werbeclip am
Anfang des Films
"I've seen things you people wouldn't believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I saw sea beams glitter in the dark beneath tanhauser gate.
All those moments will be lost in time... like tears in the rain" Blade Runner, Replikant Roy Batty am Ende des Films
Möglicherweise liegt hier ein Grund, warum die Arbeiten Alekos Hofstetters nicht bevölkert werden. Kein Mensch zu sehen, nicht einmal ein Werbeträger
oder ein Marlowe-hafter Detektiv wie in Blade Runner oder Protagonisten westdeutscher Wirtschaftswunderlandschaften oder sozialistischer Stadtgründungen.
Ein Piktogramm hier, eine Comicfigur da, das wars. Die Referenzen an Tim und Struppi oder Godzilla-Figuren legen den Gedanken nahe, sich alle einzelnen im Bild
zusammengelegten Objekte und Motive mit ihren Sprechblasen vorzustellen, vertieft im Gespräch über das eigene Schicksal als Abenteurer und Wiedergänger.
In gewissem Sinne funktioniert insofern der gesamte Zyklus des Tannhäuser-Tors wie ein Comic. Szene für Szene wird die erinnerte Geschichte einer
Modernisierung ausgebreitet, in grellen, giftigen oder schmeichelnden Farben, eine potentiell unendliche Reihe, in der sich jede klare Formulierung eines historischen
Ortes oder einer umrissenen Zukunft verliert beziehungsweise mit dem nächsten Bild wieder eine andere Richtung nimmt. Eine beunruhigende Botschaft, aufgehoben
in einer glatten Ober-und den Farbflächen und dynamischen Schwüngen aus dem Acryl-Marker, dem Kugelschreiber, dem Buntstift und den Tintenstrahldrucker.
„Mich interessiert Zeit und Dauer zusammenzuführen. Gewöhnlich wird Zeit als ein Vergehen, als das Nacheinander von Zeitpunkten gesehen, deren
Vergänglichkeit jede Dauer verabschiedet. Die Erinnerung einzelner Ereignisse im Zeitflusses in unserem Gedächtnis verbinden sich aber auch zu etwas
Dauerhaftem. Dieses Fließen des Zeitflusses, bei dem sich das Vorher in ein Nachher hineinzieht, bringt die Dauer und die Veränderung eines Werdens zusammen.
Und dann lässt sich Zeit als Zeit denken. Es geht also nicht um Raum in Form einer unterteilten Linie oder messbaren Strecke.“ Alekos Hofstetter
Wäre es nötig, diese Position mit einer ebenso zeitgenössischen Theorie zu bekräftigen oder auch nur bedeutsamer erscheinen zu lassen, käme
insbesondere der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour in Frage, und zwar zunächst der Bruno Latour als Erfinder des Buchtitels Wir sind noch
nie modern gewesen (Suhrkamp 2008, frz. Original 1991), dessen ‚Sound‘ kongenial mit den Arbeiten Alekos Hofstetters zu korrelieren scheint, aber auch jede Art des
Bashings oder Festhaltens der Moderne unter eine neue Aufgabe stellt. Die konstruktive Seite seines Konzepts hat Latour unter anderem am 8. Februar 2010 dann auf
einen Punkt gebracht in seinen Ausführungen vom Kompositionismus, eines ebenso ernst gemeinten wie ironisch unterlegten -ismus:
„Kompositionismus stellt sich der Aufgabe, Universalität zu suchen, ohne zu glauben, dass Universalität schon da sei und darauf warte, enthüllt
und entdeckt zu werden. (…) Vom Universalismus nimmt sie die Aufgabe an, eine gemeinsame Welt aufzubauen; vom Relativismus die Gewissheit, dass diese gemeinsame
Welt aus absolut heterogenen Teilen aufgebaut werden muss, die nie ein Ganzes ergeben werden, sondern bestenfalls eine zerbrechliche, korrigierbare und vielfältige
Komposition.“ (1)
(1) Vortrag Bruno Latours zur Annahme des Kulturpreises der Münchner Universitätsgesellschaft, 8. Februar 2010, erschienen in Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Ein-Versuch-das-Kompositionistische-Manifest-zu-schreiben-3384467.html, aufgerufen am 26.4.2021