Ferne ist das Gegenteil von Nähe. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität
des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach »Ferne so nah es sein mag«. Die Nähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag,
tut der Ferne nicht Abbruch, die es nach seiner Erscheinung bewahrt. Walter Benjamin (1)
Futuristische Architektur wird grundsätzlich hinfällig und vorübergehend sein. Unsere Häuser werden weniger
beständig sein als wir. Jede Generation muss ihre eigene Stadt neu erschaffen.
Antonio Sant'Elia, Manifest der futuristischen Architektur, 1914 (2)
I've... seen things you people wouldn't believe. Attack ships on fire off the shoulder of Orion. I've watched C-beams
glitter in the dark near the Tannhauser Gate. All those... moments will be lost in time, like tears in rain.
NEXUS-6 N6MAA10816 (3)
Heute hier und morgen gestern
Daniel H. Wild
Wovon wollen wir Abschied nehmen? Was möchten wir vergessen? Oft denken wir uns Geschichte als einen unaufhaltsamen Lauf der Zeit
und das, was die Moderne war, rückt immer weiter in eine Ferne, die nach und nach zu verschwinden droht.
Von Aufklärungseifer getragene Visionen scheinen im Heute nur aus dem Gestern übrig geblieben. Vermeintliche
Scheiterhaufen von Utopien in Sichtbeton oder Cortenstahl werden entsorgt und aus der Umwelt gesprengt, um neuen Glaspalästen
zu weichen. Wie gerne schauen wir uns Videoclips von einstürzenden Neubauten an, die fachgerecht und zeitnah mit Sprengstoff
demoliert werden. Alekos Hofstetter und Florian Göpfert unterwandern in ihren Zeichnungen des Werkzyklus Tannhäuser Tor
die Notwendigkeit einer utopischen Nostalgie als wirksamen Gegenpol angesichts einer Entradikalisierung der Vorstellungskraft
und funktionieren daher mit einer gehörigen Portion künstlerischer Dreistigkeit Bauten der Nachkriegsmoderne zu zeitlosen
Kultstätten um. In ihren Arbeiten erscheint Nostalgie ausschließlich als ironische Form des Stillstands
und funktioniert damit als ein anderes Zeitbild, in dem die menschliche Gestalt und alle Hoffnungen ihrer Verwirklichung
überflüssig geworden sind.
Mit dieser Sichtweise weisen Hofstetter und Göpfert auch auf die zerstörerischen Utopien in der Vorstellungskraft
des 20. Jahrhunderts hin, in denen der Stalinismus die logische Konsequenz der Moderne bedeutet oder der Futurismus schnurstracks
in der Ästhetisierung des Faschismus mündet. Sie deuten dabei, und das ist besonders frech, eine direkte Verbindung
zur Ästhetik der Nachkriegszeit und des Kalten Krieges an. Diese Zeit, so das Künstlerduo, ist ebenso geprägt
von einer menschenleeren Überlegenheit des Materials. Die Macht des Materials schließt den einzelnen Menschen aus,
zugunsten eines abstrakten Ideals des sozialistischen Genossen oder des sozialdemokratischen Staatsbürgers.
Solch ein Verfahren vereint mithin den bundesrepublikanischen Nachkriegsstädtebau in Hannover und die Neubauten
in Halle-Neustadt, die Pariser Trabantenstädte und die Arbeitersiedlungen in Glasgow, und macht die Parallelen zwischen
dem globalen Versprechen der Vereinten Nationen und der Vermessenheit einer Planhauptstadt im Hochland von Brasilien sichtbar.
Die überordnende Symbolkraft des Nachkriegsstadtbildes, durch die bei den Olympischen Spielen in Sarajevo
die Völkerfreundschaft beschworen wird, während Drachenfels und Petersberg im Siebengebirge über die
Genügsamkeit einer Bonner Republik wachen, findet sich in der Einbildungskraft des Tannhäuser Tors wieder,
ebenso wie etwa Anspielungen auf die titoistischen Gedenkstätten zur Schlacht an der Sutjeska und das Denkmal für
die Revolution in Podgarić, auf französische Feriensiedlungen oder das Panoramarestaurant in der Bergwelt des Piz Gloria.
Die Tatsache, dass sich eine Festung Ernst Stavro Blofelds als ein solches Wintersportreiseziel entpuppte, gehört genauso dazu
wie die Szenenbilder Ken Adams in den Filmen eines Geheimagenten ihrer Majestät oder die sentimentalen Erinnerungsfetzen
eines von der Tyrell Corporation geschaffenen Androiden, dessen Vorstellungskraft die einzelner menschlicher Individuen
bei Weitem übersteigt.
Deutsche Arbeiter wurden einst gewarnt: „die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“. Gleichsam sind die brutalistischen
Neu- und Umbauten des Tannhäuser Tor in ihren pseudo-romantisch angelegten Landschaften mit Abfallfragmenten
der postmodernen Semiotik wohl eher eine schlaue Finte. Beton. Es kommt eben drauf an, was man draus macht. Alekos Hofstetter
und Florian Göpfert beschäftigen sich indessen mit der Konditionierung menschlicher Sinnlichkeit durch Architektur.
Herrschaftsansprüche und Machtmechanismen bestimmen nämlich auch, ob und in welchem Maße durch architektonische
Entwürfe Unübersichtlichkeit, Verwirrung und eine Überforderung der Sinnlichkeit inszeniert werden. Hofstetter
und Göpfert holen dabei paradoxerweise auf dem Wege der Entrückung zurück, was in die Ferne abgeglitten war,
und liefern gleichzeitig analytisch klar einen wichtigen Beitrag zu einem längst überfälligen sozial-ästhetischen
Diskurs um die Verödung, die die fortschreitende Verdrängung der Moderne nach sich ziehen muss. An deren Ausklang
wurde sogar das Ende der Geschichte posaunt, und ob solch einer Erklärung zeigen uns die Tannhäuser Tor-Zeichnungen,
dass die Verbindung von Architektur zu Herrschaftsansprüchen und Machtmechanismen auch heute noch maßgeblich ist.
Nach dem Ende der Geschichte finden wir die Überreste längst vergessener Zivilisationen, wie Forschungsreisende
auf der Schwelle bei Jules Verne: die Geheimnisvolle Insel, Machu Picchu, Tumak, oder das, was Benjamin damals den „namenlosen Fron“
der Zeitgenossen nannte. In diesen fernen, anderen Ländern beharren die Bauwerke am Tannhäuser Tor auf ihre
Daseinsberechtigung und werden dereinst dort auch allen sozialdemokratischen Versprechungen gerecht, so wie die wilhelminischen
Machtphantasien des 19. Jahrhunderts ihr Denkmal im Teutoburger Wald fanden. Auch sie versprachen damals sinnstiftende Ruhe,
während wir hier Zeitzeugen eines vergänglichen Brutalismus werden, wiederauferstanden aus Ruinen und mit
menschlichem Antlitz. Sollte dieser Blick aber verschwinden, mahnt das Tannhäuser Tor, wird unser gemeinsamer Alltag
bald Teil einer vergangenen, zukünftigen Zeit sein, die nur darauf gehofft hatte, weiterhin warten zu dürfen.
(1) Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in Gesammelte Schriften - Band I,
Teil 2: Abhandlungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980.
(2) Antonio Sant'Elia (1888-1916), Manifesto dell’Architettura Futurista, Lacerba 2:15, Milano, 1914.
(3) Das Tannhäuser Tor ist ein fiktiver Ort, der erstmals im Film Blade Runner (Ridley Scott, USA 1982) erwähnt wird.